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Einwanderung und Überlieferungszusammenhang

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Historiker müssen sicher nicht zu allem etwas beitragen. Sie sollten es, jedenfalls als Historiker, vor allem dann nicht tun, wenn ihre eigene Arbeit nichts mit dem Thema zu tun hat, zu dem sie sich äußern. Sie sollten dann auch vorsichtig mit dem Einsatz ihres Vokabulars sein, das nach außen Expertentum suggeriert, auch wenn ein solches gar nicht vorliegt. Sie sollten dann auch markieren, dass sie sich als Privatleute äußern, nicht als Experte. Anders vor etwa drei Wochen Jörg Baberowski: Unter dem Titel “Europa ist gar keine Wertegemeinschaft” wendet er sich vehement gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.

Nun gilt es nicht, dem, was Baberowski dort vorträgt, als weiterer vermeintlicher Experte etwas entgegenzustellen. Es reicht vielleicht festzustellen, dass auch Baberowski nicht wirklich souverän beispielsweise mit den verschiedenen Aufenthaltstiteln umgeht, die einen legalen Aufenthalt in Deutschland ermöglichen, und stattdessen pauschalierend und mehrfach von “illegalen Einwanderern” spricht; er weiß, was ein solches Sprechen auslöst. Und dass er den von anderen schon gewohnten Minderheitsduktus dann in einem Folge-Interview auch noch einnimmt (“es gibt eine Atmosphäre, in der jene, die das wollen, anderen vorschreiben können, wie sie zu reden haben” – http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/historiker-joerg-baberowski-im-interview-ueber-asyl-13810824.html), unerträglich – aber geschenkt. (Man fragt sich allerdings, wer ihm den angeblöich so gutmenschenhaften Ton vorschreibt: Seehofer? de Maizière?)

Fachlich haben zumindest Jannis Panagiotidis, Patrice Poutrus und Frank Wolff – ebenfalls in der FAZ – schon ihre Einwände vorgetragen (Integration ist machbar, Nachbar – http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/fluechtlingskrise-integration-ist-machbar-nachbar-13828405.html).Sie tun dies aus der Perspektive der Historischen Integrationsforschung, und dem ließe sich sicher noch manches hinzufügen – aber eben von Migrations- und Integrationsforschern.

Was mich stört, ist eine Passage, die man in allzu vielen modernen kulturhistorischen Texten findet, eine Annahme über Gesellschaft, die ich für historisch keineswegs belegt und sehr fragwürdig halte:

“Die Integration von mehreren Millionen Menschen in nur kurzer Zeit unterbricht den Überlieferungszusammenhang, in dem wir stehen und der einer Gesellschaft Halt gibt und Konsistenz verleiht. Wenn uns mit vielen Menschen nichts mehr verbindet, wenn wir einander nichts mehr zu sagen haben, weil wir gar nicht verstehen, aus welcher Welt der andere kommt und worin dessen Sicht auf die Welt wurzelt, dann gibt es auch kein Fundament mehr, das uns zum Einverständnis über das Selbstverständliche ermächtigt. Gemeinsam Erlebtes, Gelesenes und Gesehenes – das war der soziale Kitt, der unsere Gesellschaft einmal zusammengehalten hat.”

Woher weiß Baberowski eigentlich, dass eine Gesellschaft diesen Zusammenhang braucht? Was verband nach 1945 die Vertriebenen mit der ansässigen Bevölkerung? Ehrlich gesagt fast nichts. Was verband nach 1991 die Russlanddeutschen mit der ansässigen Bevölkerung? Fast nichts. Das sind Beispiele, die schon Panagiotidis und seine Kollegen vortragen. Man könnte dasaber beliebig fortsetzen. Was verbindet heute eigentlich die Kassiererin von Schlecker mit dem Risiko-Controller der Deutschen Bank? Diese Frage soll keine Klischees bedienen, sondern nur deutlich machen, dass der “Überlieferungszusammenhang”, sonst auch als “Leitkultur”, als “Sinnzusammenhang” und ähnliches angesprochen, gar nicht nötig ist, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten.

Vor einigen Jahren habe ich das aus völlig anderem Anlass schon einmal thematisiert – in einer Fußnote. Damals ging es um die kulturwissenschaftliche Frage, ob Institutionen ihre Wirkung durch die “Identifikation mit den normativen Setzungen und Werthorizonten einer Institution” (Karl Rehberg) oder durch ihr Sanktionspotential entfalten. Verwiesen hatte ich dann auf so unterschiedliche Soziologen wie Hartmut Esser und Niklas Luhmann, die eine Identifikation und einen irgendwie gearteten sozialen Konsens für das Funktionieren einer sozialen Ordnung eben nicht mehr zugrundelegen. Hartmut Esser behauptet auch im Verweis auf Niklas Luhmann, „dass die herkömmlichen, immer noch auf irgendeinen Konsens zielenden Arten der Legitimation die Konstruktionsbedingungen komplexer Gesellschaften tatsächlich nicht mehr treffen. […] Die klassische Soziologie hängt aber mit allen Fasern an der Vorstellung, dass auch die modernen Gesellschaften immer noch eines übergreifenden und verbindlichen Konsenses bedürfen“ (Hartmut Esser). [Verweise unter Frings, Andreas: Zwischen Ökonomie und Geschichte. Ein Plädoyer für den Dialog der Politikgeschichte mit der empirisch-analytischen Politikwissenschaft. In: Johannes Marx, Andreas Frings (Hg.): Neue Politische Ökonomie in der Geschichtswissenschaft/ New Political Economy in History. Historical Social Research (2007) 4, S. 52-93.]

Historiker geben gerne vor, dass sie intensiv soziologische Theoriebildung konsumieren – vielleicht lesen sie die falschen Texte?


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