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Rationales Entscheiden und historische Erklärung

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Seit langem beschäftige ich mich mit der Frage der handlungstheoretischen Grundlegung der historischen Erklärung. Aktuell stoße ich dabei auf die Selbstbeschreibung des SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ in Münster. Auf der Homepage findet sich eine Zusammenfassung des Forschungsprogramms, in der es u.a. heißt: “Damit soll zum anderen ein Anstoß dazu gegeben werden, Entscheiden zu einem zentralen Problem der Historischen Kulturwissenschaften zu machen […].” Dem kann ich ich nur anschließen – würde aber ergänzen, dass Entscheiden immer schon ein zentrales Problem der Historischen Kulturwissenschaften war.

Was mich aber verwundert, ist der in der Geschichtswissenschaft immer noch anhaltende Impuls, sich gegen ein Modell von Handlungsrationalität zu wenden, das eigentlich von niemandem mehr vertreten wird – das hat etwas vom Kampf gegen selbstgebaute Strohpuppen. Zugleich werden Theorieentwicklungen der letzten 20-30 Jahre souverän ignoriert. Es erinnert ein wenig an die Begeisterung der Historiker/innen für Clifford Geertz zu einem Zeitpunkt, als die Ethnologie ihn schon nach heftiger Kritik zu überwinden begann.

So heißt es beispielsweise unter http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2015/mai/News_SFB_Kulturen_des_Entscheidens.html: “Ziel der Forschungen sei es unter anderem, ‘die Illusion vom allgegenwärtigen rationalen Entscheiden zu entzaubern’, erläutert die Trägerin des renommierten Leibniz-Preises, die den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der WWU innehat.” Wer nährt eigentlich noch diese Illusion? Das Teilprojekt “Politisches Entscheiden in der sozialistischen Tschechoslowakei” (https://www.uni-muenster.de/forschungaz/project/9482;jsessionid=9f574e7663832d7286d06a69f84b) führt aus: “Methodisch knüpft das Projekt an Ansätze der neo-institutionalistischen Organisationstheorie an, welche die Rational-Choice-Theorie und individualistische Entscheidungstheorien kritisch hinterfragen.” Und Frau Prof. Dr. Stollberg-Rilinger selbst erklärt in einem Vortrag anlässlich der Verleihung des Preises des Historischen Kollegs am 8.11.2013: “Das alte rational-choice-Modell ist mittlerweile gründlich entzaubert worden, und zwar von Vertreten der ‘Entscheidungswissenschaften’ selbst.” Ich vermute, sie bezieht sich dabei auf experimentelle Ökonomen, die seit Jahren intensiv experimentieren, um zu beweisen, wie “irrational” Menschen in Wirklichkeit (!) handeln.

Diese experimentellen Ökonomen verwechseln aber, dass vollständige Informiertheit und Eigennutz nie Kern der Rational-Choice-Theorie, sondern immer nur Zusatzannahmen (im Sinne von Imre Lakatos) und damit nur modellbildend waren; sprich: Es handelte sich dabei nur um Modellannahmen, die man brauchte, um gewisse Rechenoperationen durchzuführen – mehr nicht. Modellannahmen sind keine Aussagen über die Wirklichkeit. Der entscheidende theoretische Kern war immer nur die Annahme einer subjektiven Handlungsrationalität; weder müssen Ziele rational gesetzt und entschieden werden, noch muss das Kalkül eigennützig sein oder Ähnliches. Soziologen wie Raymond Boudon, Harrmut Esser oder Siegwart Lindenberg haben dazu sehr gut lesbare und die Produktivität des Ansatzes beweisende Studien vorgelegt, in denen mir vor allem der Vorschlag der sog. Colemanschen “Badewanne” besonders hilfreich und strukturierend erscheint. Geht man der Rekonstruktion der hemrmeneutischen Tradition mit Oliver R. Scholz (ebenfalls Münster) nach, so zeigt sich sogar, dass diese Annahme subjektiver Handlungsrationalität auch der Kern hermeneutischen Verstehens ist.

Das alles gefährdet den Ansatz des SFB 1150 natürlich in keinster Weise. Die “soziale Praxis des Entscheidens in historisch vergleichender und interdisziplinärer Perspektive vom Mittelalter bis zur Gegenwart” ist ein wichtiges Unterfangen. Es scheint mir nur lohnender, dies als empirische Frage zu begreifen und für dieses Anliegen nicht notwendige Angriffe auf Handlungstheorien einfach beiseite zu lassen. Eine eigene Handlungstheorie (die, wenn sie als solche ernst genommen werden will, überzeitlich gültige nomologische Aussagen über menschliches Handeln treffen müsste), hat der SFB 1150 jedenfalls nicht dagegengestellt. Selbstverständlich soll den Fragen nachgegangen werden, “wie das Entscheiden in unterschiedlichen historischen Kontexten gerahmt, modelliert, inszeniert und reflektiert wurde, auf welchen kulturspezifischen Bedingungen es jeweils beruhte, wie es seinerseits die institutionelle Struktur der Gesellschaft und die sozialen Machtverhältnisse prägte, aber auch, wie und warum sich Kulturen des Entscheidens langfristig veränderten.” Das geht aber auch (beispielsweise) innerhalb des Modells der Colemanschen Badewanne und innerhalb des Forschungsprogramms der Theorien rationalen Handelns.


Aufsätze dazu aus eigener Feder:

  • (gemeinsam mit Johannes Marx:) Wenn Diskurse baden gehen. Eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 16 (2005) 4, S. 81-105; sowie in: Franz X. Eder/ Reinhard Sieder (Hg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen. Wiesbaden 2006, S. 91-112.
  • Rationales Handeln und historische Erklärung. In: Journal for General Philosophy of Science/ Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie (2007) 1, S 31-56.
  • Zwischen Ökonomie und Geschichte. Ein Plädoyer für den Dialog der Politikgeschichte mit der empirisch-analytischen Politikwissenschaft. In: Johannes Marx, Andreas Frings (Hg.): Neue Politische Ökonomie in der Geschichtswissenschaft/ New Political Economy in History. Historical Social Research (2007) 4, S. 52-93.
  • Erklären und Erzählen: Narrative Erklärungen historischer Sachverhalte. In: Andreas Frings/ Johannes Marx (Hg.): Erklären, Erzählen, Verstehen. Beiträge zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der Historischen Kulturwissenschaften. Berlin: Akademie Verlag 2008 (= Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften), S. 129-164.

 


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